Nutzniessung nach Art. 473 ZGB: Ein umfassender Leitfaden für die Nachlassplanung
Die Nachlassplanung ist ein komplexes und oft emotional aufgeladenes Thema, das weitreichende Konsequenzen für die Zukunft der Angehörigen hat. Insbesondere für Ehepaare mit gemeinsamen Nachkommen stellt sich die Frage, wie der überlebende Partner bestmöglich abgesichert werden kann, ohne die Rechte der Kinder zu verletzen. Das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) bietet hierfür mit Artikel 473 ein aussergewöhnlich wirksames Instrument: die Begünstigung des überlebenden Ehegatten oder eingetragenen Partners durch die Einräumung einer Nutzniessung.
8/23/20258 min read
Einleitung
Die Nachlassplanung ist ein komplexes und oft emotional aufgeladenes Thema, das weitreichende Konsequenzen für die Zukunft der Angehörigen hat. Insbesondere für Ehepaare mit gemeinsamen Nachkommen stellt sich die Frage, wie der überlebende Partner bestmöglich abgesichert werden kann, ohne die Rechte der Kinder zu verletzen. Das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) bietet hierfür mit Artikel 473 ein aussergewöhnlich wirksames Instrument: die Begünstigung des überlebenden Ehegatten oder eingetragenen Partners durch die Einräumung einer Nutzniessung.
Diese besondere Form der Nutzniessung ermöglicht es dem Erblasser, dem Partner ein umfassendes Nutzungsrecht am Nachlassvermögen zu gewähren, während die Nachkommen formell das Eigentum erhalten. Die Regelung ist ein strategischer Kompromiss, der das Bedürfnis nach Sicherheit des Partners mit dem Wunsch nach einer gerechten Verteilung an die Kinder in Einklang bringen soll. Der vorliegende Bericht beleuchtet die Grundlagen, Vor- und Nachteile sowie die konkreten Auswirkungen dieser Verfügung von Todes wegen. Dabei wird die zentrale Rolle der Pflichtteile im Kontext der Erbrechtsrevision 2023 hervorgehoben und die rechtlich komplexe Materie anhand eines praxisnahen Beispiels veranschaulicht.
I. Grundlagen der Nutzniessung im Erbrecht: Ein strategisches Instrument
1.1 Was ist Nutzniessung? Eine Abgrenzung zum Eigentum
Grundlegend versteht man unter Nutzniessung das dingliche Recht einer Person, einen Vermögenswert zu besitzen, zu nutzen und zu gebrauchen, ohne dessen Eigentümerin zu sein. Dieses Recht, das im Erbrecht häufig Anwendung findet, wird erst mit dem Tod des Erblassers wirksam. Der Erblasser kann dabei einer Person ein umfassendes Nutzungsrecht an seinem gesamten Nachlass oder an einzelnen Teilen davon einräumen. Bei Liegenschaften muss diese Nutzniessung in der Regel zwingend im Grundbuch eingetragen werden, um rechtswirksam zu sein.
Während der Nutzniesser den «vollen Genuss» am Vermögenswert hat , verbleibt dem oder den Eigentümern lediglich das sogenannte «nackte Eigentum». Dies bedeutet, sie behalten die Eigentumsrechte an der Substanz der Sache, können sie aber nicht selbst nutzen, solange die Nutzniessung besteht. Obwohl das Stammrecht, also das dingliche Recht selbst, weder übertragbar noch vererblich ist, kann die Ausübung des Rechts an Dritte übertragen werden.
1.2 Der Zweck von Art. 473 ZGB: Sicherung des überlebenden Ehegatten
Der primäre Zweck von Art. 473 ZGB ist die rechtliche Absicherung des überlebenden Ehegatten oder eingetragenen Partners. Er gibt dem Erblasser die Möglichkeit, sicherzustellen, dass der Partner weiterhin im gemeinsamen Haus wohnen oder die Erträge aus dem Erbe für seinen Lebensunterhalt nutzen kann, auch wenn ihm diese Vermögenswerte laut der gesetzlichen Erbfolge nicht oder nicht vollständig zustehen würden. Es handelt sich dabei um eine Form der «Maximalbegünstigung» des Ehegatten.
1.3 Nutzniessung vs. Wohnrecht: Die entscheidenden Unterschiede
In der Nachlassplanung werden Nutzniessung und Wohnrecht häufig verwechselt, obwohl sie sich in ihrem Umfang grundlegend unterscheiden. Beide sind Personaldienstbarkeiten, die mit dem Tod des Berechtigten erlöschen und deren Errichtung an Grundstücken öffentlich beurkundet und im Grundbuch eingetragen werden muss. Darüber hinaus können beide Rechte nicht vererbt werden. Die wesentlichen Unterschiede in Bezug auf Rechte, Pflichten und steuerliche Aspekte sind jedoch von grosser strategischer Bedeutung.
Die Nutzniessung gewährt dem Berechtigten das Recht, die Liegenschaft nicht nur zu bewohnen, sondern sie auch zu verwalten und zu vermieten. Er darf sämtliche Erträge, wie beispielsweise Mieteinnahmen, für sich behalten. Im Gegenzug ist der Nutzniesser verpflichtet, die Kosten für den gewöhnlichen Unterhalt, die Bewirtschaftung, die Hypothekarzinsen, die Versicherungsprämien sowie die periodischen Steuern und Abgaben zu tragen.
Das Wohnrecht hingegen ist ein höchstpersönliches Recht, das den Berechtigten lediglich dazu ermächtigt, in einem Gebäude oder einem Teil davon Wohnung zu nehmen. Eine Vermietung an Dritte ist nicht gestattet. Auch die Übertragung der Ausübung ist ausgeschlossen. Die Pflichten des Wohnberechtigten sind im Vergleich wesentlich geringer: Er muss nur für den gewöhnlichen Unterhalt und die Nebenkosten aufkommen. Grössere Kosten, wie die Hypothekarzinsen, trägt in der Regel der Eigentümer.
II. Die grosse Erbrechtsrevision 2023: Neuer Rahmen für die Nachlassplanung
Die Erbrechtsrevision, die am 1. Januar 2023 in Kraft getreten ist, hat die Spielregeln der Nachlassplanung fundamental verändert und die Anwendung von Art. 473 ZGB in einen neuen Kontext gestellt. Das neue Recht gilt für alle Todesfälle ab diesem Datum, ungeachtet davon, wann das Testament oder der Erbvertrag verfasst wurde.
2.1 Die Reduktion der Pflichtteile und die Erhöhung der Verfügungsfreiheit
Die zentrale Neuerung ist die Reduktion des Pflichtteils der Nachkommen von drei Vierteln auf neu die Hälfte ihres gesetzlichen Erbanspruchs. Gleichzeitig wurde der Pflichtteil der Eltern vollständig abgeschafft. Diese gesetzlichen Anpassungen haben eine direkte Kausalkette in Gang gesetzt, die sich unmittelbar auf die Gestaltungsmöglichkeiten auswirkt: Durch die tieferen Pflichtteile erhöht sich die frei verfügbare Quote des Erblassers.
Im konkreten Fall der Konstellation «Ehegatte und Nachkommen» stieg die frei verfügbare Quote von 3/8 auf nunmehr 1/2 des gesamten Nachlasses. Diese erhöhte Flexibilität ist es, die dem Erblasser heute einen grösseren Gestaltungsspielraum bei der Begünstigung des überlebenden Ehegatten einräumt. Während sich am Pflichtteil des Ehepartners (1/2 des gesetzlichen Erbanspruchs) nichts geändert hat , ermöglicht das neue Recht die Zuweisung einer grösseren Quote zum Eigentum, zusätzlich zur Nutzniessung. Neu können dem überlebenden Ehegatten nach Art. 473 Abs. 2 ZGB bis zu 1/2 des Nachlasses zu Eigentum zugewiesen werden, statt wie zuvor nur 1/4.
III. Art. 473 ZGB im Fokus: Vor- und Nachteile im Detail
Die Entscheidung für oder gegen eine Nutzniessung nach Art. 473 ZGB ist eine strategische Abwägung, die sowohl den überlebenden Ehegatten als auch die Nachkommen auf unterschiedliche Weise betrifft.
3.1 Vorteile für den überlebenden Ehegatten
Der grösste Vorteil ist die maximale Sicherheit und Unabhängigkeit. Der überlebende Ehegatte hat das Recht, die Immobilie zu bewohnen, selbst wenn das Eigentum an die Kinder übergeht oder die Liegenschaft verkauft wird. Dies schützt ihn vor den Unsicherheiten einer Erbteilung und möglichen Auseinandersetzungen. Darüber hinaus hat der Nutzniesser nicht nur das Recht, das Haus selbst zu nutzen, sondern kann es auch vermieten, um sich ein Einkommen im Alter zu sichern.
3.2 Nachteile für den überlebenden Ehegatten
Trotz der grossen Vorteile bringt die Nutzniessung auch erhebliche Pflichten mit sich. Der Nutzniesser ist verpflichtet, sämtliche laufenden Kosten der Liegenschaft zu tragen, einschliesslich der Hypothekarzinsen, der Versicherungsprämien, der öffentlichen Abgaben (Steuern) und der Unterhaltskosten. Diese finanzielle Last kann im Alter zu einer grossen Belastung werden. Darüber hinaus gibt es eine spezifische gesetzliche Einschränkung: Die Nutzniessung am Pflichtteil der Kinder entfällt von Gesetzes wegen, wenn der überlebende Ehegatte wieder heiratet. Diese Regelung dient dem Schutz der Nachkommen und kann für den Nutzniesser eine unerwartete strategische Falle darstellen, die seine langfristige Absicherung beeinflusst.
3.3 Vorteile für die Nachkommen
Für die Nachkommen hat die Nutzniessung den grossen Vorteil, dass sie das Eigentum an der Liegenschaft sofort erhalten, auch wenn dieses zunächst «nackt» ist. Dies kann aus sentimentalen Gründen oder im Hinblick auf eine spätere freie Verfügbarkeit der Liegenschaft von Bedeutung sein. Zudem erhalten die Nachkommen die Hälfte des Nachlasses zu (nacktem) Eigentum und nicht bloss einen Viertel (was ihrem Pflichtteil ohne Nutzniessung entsprechen würde).
3.4 Nachteile für die Nachkommen
Der offensichtlichste Nachteil für die Nachkommen ist, dass sie zwar Eigentümer sind, die Liegenschaft aber für die Dauer der Nutzniessung nicht selbst nutzen oder bewohnen können. Sie sind rechtlich blockiert und können die Immobilie nur eingeschränkt veräussern oder belehnen. Eine mit einem Nutzniessungsrecht belastete Liegenschaft ist auf dem Markt deutlich weniger wert und schwieriger zu verkaufen, da der Käufer das Nutzungsrecht übernehmen muss. Diese Situation kann zu Frustration führen und das Gefühl erzeugen, vom Nachlass ausgeschlossen zu sein, was künftige familiäre Auseinandersetzungen begünstigen kann.
IV. Die Erbteilung im Detail: Das 1-Million-Beispiel mit Art. 473 ZGB
Um die Auswirkungen der Nutzniessung nach Art. 473 ZGB zu veranschaulichen, wird ein konkretes Beispiel betrachtet.
4.1 Die Ausgangslage: Gesetzliche Erbteilung ohne Verfügung
Nehmen wir an, ein Erblasser hinterlässt seine Ehefrau und zwei gemeinsame, erwachsene Kinder. Der gesamte Nachlass besteht ausschliesslich aus einer Liegenschaft im Wert von einer Million Schweizer Franken. Ohne eine Verfügung von Todes wegen (Testament oder Erbvertrag) gilt die gesetzliche Erbfolge.
Die Aufteilung wäre demnach:
Die Ehefrau erbt die Hälfte des Nachlasses (1/2), also CHF 500'000.
Die beiden Kinder erben die andere Hälfte des Nachlasses (1/2) zu gleichen Teilen, also je 1/4 oder CHF 250'000.
Die Pflichtteile, die nach dem neuen Erbrecht von 2023 massgeblich sind, betragen:
Pflichtteil der Ehefrau: Die Hälfte ihres gesetzlichen Erbanspruchs, also 1/2×1/2=1/4 des Nachlasses. In diesem Fall CHF 250'000.
Pflichtteil der Kinder: Die Hälfte ihres gesetzlichen Erbanspruchs, also 1/2×1/2=1/4 des Nachlasses (insgesamt für beide Kinder). In diesem Fall CHF 250'000.
Die frei verfügbare Quote, über die der Erblasser frei verfügen kann, beträgt 1/2 des Nachlasses, also CHF 500'000.
4.2 Die Erbteilung mit Begünstigung nach Art. 473 ZGB
Der Erblasser möchte sicherstellen, dass seine Ehefrau bis zu ihrem Lebensende im Haus wohnen kann und über alle Einnahmen daraus verfügen darf. Er errichtet ein Testament, in dem er gestützt auf Art. 473 ZGB die Nutzniessung am gesamten Teil des Erbes, der den Nachkommen zufällt, zuwendet. Dies ist eine Ausnahme, die es dem Erblasser ermöglicht, dem überlebenden Ehegatten eine umfassende Begünstigung zukommen zu lassen.
Die daraus resultierende Erbteilung wäre wie folgt:
Pflichtteil der Ehefrau: Die Ehefrau behält ihren Pflichtteil, der 1/4 des Nachlasses beträgt.
Pflichtteil der Kinder: Die Kinder werden nicht auf ihren Pflichtteil gesetzt, sondern ihr Anteil wird mit einer Nutzniessung belastet.
Anteil der Ehefrau: Die Ehefrau erhält die gesamte frei verfügbare Quote von 1/2 des Nachlasses zu Eigentum. Zusätzlich erhält sie die Nutzniessung am Erbteil der Nachkommen, der ebenfalls 1/2 des Nachlasses ausmacht.
Anteil der Kinder: Die Kinder erhalten nur das "nackte Eigentum" am Erbteil, der ihnen zufällt, das heisst an 1/2 des Nachlasses, der mit der Nutzniessung belastet ist. Sie erhalten jedoch 1/2 des Nachlasses zu (nacktem) Eigentum und somit mehr als ihr Pflichtteil von lediglich einem Viertel. Dies wird oftmals vergessen.
Diese Aufteilung zeigt die Macht von Art. 473 ZGB. Sie ermöglicht es dem Erblasser, dem Ehegatten einen weitaus grösseren Anteil am Erbe zu sichern, als es die gesetzliche Erbfolge vorsehen würde. Der Ehegatte erhält nicht nur eine Eigentumsquote, sondern auch den vollen Genuss über den Erbteil der Nachkommen.
V. Fazit und Handlungsempfehlungen
Die Nutzniessung nach Art. 473 ZGB ist ein hochwirksames Instrument der Nachlassplanung, das dem überlebenden Ehegatten grösstmögliche Sicherheit verschafft. Die jüngste Erbrechtsrevision von 2023 hat diese Begünstigung noch attraktiver gemacht, indem sie die Verfügungsfreiheit des Erblassers erhöht und die Möglichkeit geschaffen hat, dem Ehegatten neben der Nutzniessung einen grösseren Eigentumsanteil zuzuweisen.
Die strategische Abwägung zwischen der Absicherung des Partners und den Rechten der Nachkommen ist jedoch von zentraler Bedeutung. Während die Nutzniessung für den überlebenden Ehegatten eine Absicherung der Lebensqualität im Alter darstellt, kann sie für die Kinder das Gefühl der Benachteiligung und des fehlenden Zugriffs auf das Erbe erzeugen. Die Verpflichtungen des Nutzniessers, wie die Tragung aller Kosten für die Immobilie, sind ebenfalls zu berücksichtigen.
Angesichts der Komplexität dieser Materie und der weitreichenden finanziellen und familiären Konsequenzen ist eine professionelle Beratung unerlässlich. Die korrekte Formulierung im Testament oder die öffentliche Beurkundung eines Erbvertrages sind entscheidend, um die Rechtsgültigkeit der Verfügung zu gewährleisten. Eine frühzeitige, offene Kommunikation mit allen Beteiligten kann helfen, zukünftige Auseinandersetzungen zu vermeiden. Die Wahl für eine Nutzniessung nach Art. 473 ZGB ist somit nicht nur eine juristische, sondern auch eine zutiefst familiäre Entscheidung, die sorgfältig geplant und professionell umgesetzt werden muss.
Digitale notarielle Dienstleistungen, bequem und zuverlässig und zum Pauschalpreis.
Kontakt
Tel. +41 71 272 26 55
© db-Legal AG, 2025. All rights reserved.
Datenschutzerklärung


Formulare
WhatsApp:
Notariatsassistent (Chat)
Email: kontakt@online-notariat.ch